Freitag, 7. Mai 2004
Erschüttert
Dieses Wetter schlägt vermutlich vielen Leuten aufs Gemüt. Mir auch.

Heute hat mich zweimal etwas erschüttert.

Morgens vor der Schule sah ich mir noch mal ein Video über das Warschauer Getto an, dass ich eigentlich im Unterricht meiner 6. Klasse zeigen wollte. Bei den Bildern von ausgemergelten Kindern, die auf der Straße hocken, von knochigen Leichen, die auf Lastwagen geladen werden, kamen mir die Tränen.
So oft gesehen, so oft mit beschäftigt, und trotzdem haut es mich mal wieder um.

Vielleicht ist es auch die Erkenntnis, dass sich unsere "Zivilisation" in den vergangenen 60 Jahren kaum weiterentwickelt hat. Immernoch werden Kriege mit haarsträubenden Begründungen geführt (nicht, dass es tatsächlich einen legitimen Grund gäbe, einen Krieg anzufangen), immernoch halten sich Menschen (und "Völker") für besser als andere und nehmen sich das Recht heraus, die Unterlegenen zu misshandeln.

Vormittags in der Schule erwischt es mich zum zweiten Mal. Nachdem ich mit meiner Klasse eine Bioarbeit geschrieben habe, werden "Klassengeschäfte" erledigt. Dabei zeichnen einige einen neuen Vorschlag für eine neue Sitzordnung an die Tafel. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was ich das sehe: Die Jungs in der ersten Reihe, die Mädchen an der Seite, der Hauptstörer in der zentralen Mitte. Und der Schüler, der seit dem Sommer von vielen Jungs gemobbt wird, wird an den hinteren Rand platziert. Mit deutlichem Abstand zu allen anderen.
Ich bin fassungslos und sage das auch. Fordere die 12jährigen auf, sich das mal anzusehen, da mal drüber nachzudenken. Die Reaktionen zeigen, dass sie es nicht verstehen. Ich weiß nicht, wie ich pädagogisch darauf reagieren soll. Das Einzige, was mir in den Sinn kommt, ist, den Sitzplan wegzuwischen, und ihnen klarzumachen, dass mit mir soetwas nicht in Frage kommt.
Ich brauche eine Weile, um mich wieder zu fangen. Es gelingt mir kaum. Ich sage ihnen, sie sollen eine bestimmte Seite im Buch aufschlagen. Dort ist ein Bild von einem jüdischen Schüler, der mit gesenktem Kopf vor der Klasse steht, auf der Tafel ein übler Hetzspruch. Ich warte, ob irgendwem vielleicht eine Verbindung einfällt. Mir ist diese naheliegende Verknüpfung dann doch zu hart, ich bremse mich gerade noch.
Wäre dieser Vergleich zu hart?
Darf ich diesen Kindern überhaupt einen Vorwurf machen?
Sind sie die Charakterbaracken? Oder ihre Eltern?
Oder sind sie nur der Auswuchs einer Gesellschaft, die immer egoistischer wird und vielleicht auch wieder faschistisch?

Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, dass ich ratlos bin.
Und dass ich die Tage zähle bis ich diese Klasse los bin (dummerweise werden die Schlimmsten auf unserer Schule bleiben).

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